Der Hirte wünscht – Der Jäger fordert
Text: Denra Dürr - Intelligent Reiten 30.Februar.2025
Manchmal, wenn ich Menschen im Umgang und bei der Arbeit mit ihren Pferden beobachte, erinnert mich ihr Verhalten an das von „Hirten“ oder an das von „Jägern“.
Der Hirte wacht über sein Pferd, beschützt und behütet es, ist Geduldig, Fürsorglich und Achtsam. Er gesteht seinem Pferd ein gesundes Mass an „Mitspracherecht“ zu. Verbundenheit mit ihm ist für den Hirten-Typen erstrebenswert. Er denkt im wir.
Der Jäger hingegen ist fokussiert und zielgerichtet auf das unmittelbare Ergebis. Er hat klare Vorstellungen, Absichten und Ziele. Er erwartet von seinem Pferd Konzentration, Leistungsbereitschaft und Gehorsam. Er denkt im „ich“.
Beides sind archetypische Rollen, welche die unterschiedlichen Wesenszüge, Lebensansichten und Herangehensweisen an Aufgaben, beschreiben. Beide haben ihre eigenen Qualitäten, Prägungen und Eigenschaften, sowie Licht- und Schattenseiten.
Der Hirte
Für Pferdemenschen mit Hirten-Qualitäten spielt Fürsorge und Achtsamkeit eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Sie investieren sich für das Wohl ihres Pferdes, beschützen und fördern es und denken dabei stets an die Gemeinschaft, die sie mit ihrem Pferd bilden.
Der Grundton eines empathischen und integren Hirten zeigt sich in Freundlichkeit, Respekt und Wohlwollen gegenüber anderen Lebewesen. Sie denken langfristig, handeln vorausschauend und streben danach, ihr Pferd gesund, motiviert und ausgeglichen zu erhalten.
Diese Menschen zeichnen sich durch sanften Mut aus. Trotz ihrer Harmonieorientierung sind sie klar in ihren Absichten und haben ein ausgeprägtes Empfinden für Richtig und Falsch, Gerecht und Ungerecht. Sie übernehmen Verantwortung für ihre Worte und Taten.
Hirten-Menschen sind selbstreflektierend und scheuen sich nicht, ihre eigene Haltung zu hinterfragen. Konflikte versuchen sie, wenn möglich, zu vermeiden oder diplomatisch zu lösen. Ihre Präsenz und Wachsamkeit zeigen sich auch darin, dass sie auf die Bedürfnisse ihres Pferdes achten: Sie erkennen körperliche Beschwerden ebenso wie emotionalen Stress, etwa wenn das Pferd mit einer Aufgabe überfordert ist oder diese nicht versteht. Auch Langeweile im Training entgeht ihnen nicht, wenn Routinen zu starr sind, es unterfordert ist und sich mental verabschiedet.
Ein Hirte vermeidet es, sein Pferd physisch oder mental zu überfordern oder es emotional in die Enge zu treiben. Er weiß, dass Vertrauen, Losgelassenheit und Lernen nur in einer für das Pferd sicheren Atmosphäre möglich sind. Fortschritte im Training und täglichen Zusammensein bedeuten dem Hirten-Menschen mehr als Erfolge auf Turnieren.
Trotz aller Stärken haben hirtenartige Qualitäten auch Schattenseiten. Übermäßige Fürsorge kann das Pferd verunsichern, da es seinen Platz im Team nicht klar einnehmen kann. Ebenso kann das Fehlen eindeutiger Regeln oder das Vermeiden von Klarstellungen dazu führen, dass Grenzen verschwimmen – was wiederum Beziehungsprobleme zwischen Mensch und Pferd begünstigt. Pferde brauchen klare, verlässliche Menschen. Auch übertriebene Vorsicht und mangelnde physische Herausforderung, sei es im Training oder in der Gymnastizierung, können sich negativ auf das (Reit-)Pferd auswirken.
Für den Hirten ist es das Wichtigste, dass sich sein Pferd an seiner Seite sicher fühlt. Wenn er in die Augen seines Pferdes schaut, möchte er darin Vertrauen und Wohlbefinden erkennen.
Der Jäger
Wenn ich Pferdemenschen mit Jäger-Qualitäten beschreibe, sehe ich Menschen, die sich auf ein Ziel fokussieren und es nicht mehr aus den Augen lassen. Sie handeln entschlossen und zielgerichtet. Ihr Tatendrang hilft ihnen Hindernisse zu überwinden und ihr Mut, auch schwierige Herausforderungen anzunehmen und zu meistern.
Diese Menschen sind von Natur aus darauf ausgerichtet, für sich selbst zu sorgen und eher im Alleingang etwas zu erreichen. Sie besitzen eine ausgeprägte Entschlossenheit und die Fähigkeit, ihre Kräfte zu bündeln.
Die Stärke dieser Persönlichkeiten liegt in ihrer Willenskraft und ihrer Beharrlichkeit. Allerdings kann es passieren, dass sie dabei das Wohl anderer aus den Augen verlieren, da ihr Fokus stark auf ihre eigenen Vorhaben gerichtet ist. Sie sind eher Einzelkämpfer.
Empathie, Rücksichtnahme und die Fähigkeit, die Situation aus einer größeren Perspektive zu betrachten, gehören meist nicht zu ihren Stärken, sondern müssen bewusst erarbeitet werden.
Die Jäger-Mentalität steht im Gegensatz zur „Beschaffenheit“ eines Hirten. Hier geht es um Kontrolle, Gewinnen und Überlegenheit. Ihre Gabe liegt im präzisen Fokussieren, auf die passende Gelegenheit zu warten und im richtigen Moment zu handeln.
Für den Archetyp des Jägers ist es essenziell, ein Ziel zu haben, es zu erreichen und am Ende die "Trophäe" in Händen zu halten. Sie sind von sich und ihren Fähigkeiten überzeugt und beanspruchen Raum und Gesehen-werden.
Wenn etwas schiefläuft ist Selbstreflexion für sie selten der erste Ansatz. Sie sehen das Pferd häufig als Mittel zum Zweck – sei es, um persönliche Ziele zu erreichen, Ambitionen auszuleben, Anerkennung zu generieren oder innere Defizite zu kompensieren.
Auf dem Turnier und im Wettbewerb können Jäger-Qualitäten von Vorteil sein, da sie auf Erfolg und Durchsetzung ausgelegt sind – weit mehr als die eher kooperativen Eigenschaften eines Hirten.
Die Schattenseiten des Jäger-Typen können sein, dass sie durch ihren, gelegentlich aggressiven Tatendrang, die Bedürfnisse ihrer Pferde vernachlässigen und aus den Augen verlieren, auf Konfrontationskurs gehen und durch ihre Ungeduld auch Schaden anrichten können.
Zusammenfassung
Wenn ich meinen Blick auf die Welt richte, scheint es, als hätten die Jäger das Zepter übernommen. Fortschritt, Wettkampf und Dominanz bestimmen das Geschehen – oft um jeden Preis. Noch immer gilt das Gesetz des Stärkeren, obwohl wir längst nicht mehr in Höhlen leben.
Das „Ich-Bewusstsein“ der Jäger dominiert und drängt das „Wir-Bewusstsein“ der Hirten in den Hintergrund. Dadurch fällt es den Hirten schwer, ihre Qualitäten wie Fürsorglichkeit, Empathie und Gemeinschaftlichkeit – einzubringen und ihren Wert sichtbar zu machen. Doch gerade in einer Welt, die immer sschneller und leistungsorientierter wird, werden die Hirten und ihre Qualitäten immer wichtiger, um das Gleichgewicht zwischen beiden Kräften wieder herzustellen.
Auch in der Pferdewelt sind beide Archetypen vertreten, und jeder Mensch trägt Anteile von beiden in sich. Idealerweise ergänzen sich Hirten- und Jäger-Qualitäten: Die Beständigkeit und Fürsorge der Hirten gleicht die Energie und den Ehrgeiz der Jäger aus. Eine gesunde Balance zwischen beiden Kräften wäre für das Pferd die beste Wahl.

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